Karrierewechsel aus der Wissenschaft in Österreich: So wechseln Forschende erfolgreich in die Industrie

Warum immer mehr Wissenschaftler:innen Österreich verlassen - aber nicht aus dem Land

Stell dir vor, du hast jahrelang in einem Labor geforscht, Publikationen geschrieben, Konferenzen besucht - und plötzlich fragst du dich: Was kommt danach? In Österreich ist diese Frage heute keine Ausnahme mehr, sondern Alltag. Rund 30 Prozent der Forschenden, die heute im akademischen Bereich arbeiten, werden innerhalb der nächsten fünf Jahre in die Industrie wechseln. Das ist kein Ausstieg aus der Wissenschaft - das ist ein Wechsel in eine andere Form davon.

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Von den 56.500 Vollzeitäquivalenten in der österreichischen Forschung arbeiten über 36.000 bereits in Unternehmen. Das ist mehr als zwei Drittel. Die alte Vorstellung, dass Wissenschaft nur an Universitäten stattfindet, ist längst veraltet. Heute arbeiten Physiker:innen bei Siemens, Biologen bei Roche, Chemiker:innen bei Borealis - und Data Scientists bei Startups in Graz oder Linz. Der Übergang ist nicht mehr ein Abstieg, sondern eine natürliche Entwicklung.

Warum wechseln Forschende wirklich? Gehalt ist nur der Anfang

Wenn du nach Gründen für einen Karrierewechsel fragst, hörst du oft: „Gehalt.“ Und das stimmt. 24 Prozent der Forschenden, die umgestiegen sind, nennen das als Hauptgrund. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Der wahre Antrieb liegt tiefer: Sicherheit. In der akademischen Welt ist die Zukunft oft befristet - Postdoc-Stellen, Projektfinanzierungen, die nicht verlängert werden, die Angst, nach zehn Jahren noch immer keine Festanstellung zu haben. In der Industrie gibt es dagegen Verträge, die über Jahre laufen. 19 Prozent der Wechsler:innen sagen explizit: „Ich wollte endlich wissen, was morgen ist.“

Dann kommt der Faktor Wirkung. In der Uni forscht man oft für die nächste Publikation. In der Industrie forscht man für ein Produkt, das in drei Monaten auf den Markt kommt. Ein Chemiker aus Salzburg, der früher an der Uni die Reaktionsmechanismen von Polymeren studierte, entwickelt jetzt eine neue Verpackung für Lebensmittel - und sieht, wie seine Arbeit direkt den Alltag verändert. Das gibt ein anderes Gefühl von Bedeutung.

Und dann ist da noch die Arbeitskultur. In der Industrie gibt es klare Strukturen, Termine, Meetings, Prioritäten. Kein ewiges Warten auf die nächste Förderung. Kein endloses Schreiben von Anträgen. Die Arbeit ist oft schneller, direkter, messbarer. Wer das schätzt, findet in der Wirtschaft eine neue Heimat.

Die größten Mythen über den Wechsel - und was wirklich passiert

Es gibt drei Mythen, die Forschende davon abhalten, den Schritt zu wagen:

  • „Meine Doktorarbeit ist in der Industrie wertlos.“ Falsch. Unternehmen suchen nicht nach jemandem, der 200 Papers geschrieben hat. Sie suchen nach jemandem, der komplexe Probleme löst. Deine Fähigkeit, Daten zu analysieren, Hypothesen zu testen, Methoden zu entwickeln - das ist Gold wert. Du hast gelernt, mit Unsicherheit umzugehen. Das ist seltener, als du denkst.
  • „Ich bin überqualifiziert.“ Das hören viele Postdocs. Aber in Österreich herrscht ein massiver Fachkräftemangel. Im Jahr 2023 gab es über 200.000 offene Stellen - besonders in Software, Biotechnik und Ingenieurwesen. Unternehmen zahlen mehr, um Leute wie dich zu finden. Du bist nicht zu gut - du bist knapp.
  • „Ich verliere meinen akademischen Status.“ Du verlierst nichts. Du erweiterst deine Kompetenzen. Viele, die in die Industrie wechseln, kommen später als Professor:innen zurück - mit praktischem Wissen, Netzwerken und Projekten, die sie vorher nie gehabt hätten.

Die Realität: Wer aus der Wissenschaft kommt, bringt eine andere Art von Denken mit - systematisch, kritisch, langfristig orientiert. Das ist genau das, was Unternehmen heute brauchen, um Innovationen voranzutreiben.

Ein Wissenschaftler verwandelt sich visualisiert von einem Laborforscher in einen Data Scientist, während akademische Konzepte in industrielle Anwendungen übergehen.

Wie du den Wechsel planst - vier Schritte, die wirklich zählen

Ein Karrierewechsel ist kein spontaner Sprung. Es ist eine Strategie. Hier sind die vier wichtigsten Schritte, die du jetzt beginnen kannst:

  1. Identifiziere deine Transferfähigkeiten. Was kannst du besser als die meisten Industrie-Mitarbeiter:innen? Datenanalyse? Projektplanung? Schreiben komplexer Konzepte? Erstelle eine Liste. Dann übersetze sie in Unternehmenssprache: „Forschungsergebnisse in Business-Case-Dokumente umwandeln“ statt „Publikationen schreiben“.
  2. Netzwerke außerhalb der Uni aufbauen. Gehe nicht zu Konferenzen, sondern zu Branchentreffen. Besuche Events von Wirtschaftskammer Österreich, Technologie-Cluster oder Startup-Bootcamps. Sprich mit Menschen, die nicht aus der Uni kommen. Frag: „Was braucht ihr?“ Nicht: „Was kann ich tun?“
  3. Verstehe die Industrie-Logik. In der Wissenschaft geht es um Wahrheit. In der Industrie geht es um Lösungen. Ein Produkt muss nicht perfekt sein - es muss funktionieren, kostengünstig sein und rechtzeitig auf den Markt kommen. Lerne, wie man mit Budgets, Fristen und Kundenanforderungen umgeht. Das ist kein Kompromiss - das ist Professionalität.
  4. Starte mit einem Praktikum oder Projekt. Viele Unternehmen bieten kurzfristige Projekte an: 3-6 Monate, Teilzeit, mit klarem Ergebnis. Das ist dein Testlauf. Du siehst, wie es ist, in einem Team zu arbeiten, ohne gleich den Job zu kündigen. Und du baust Kontakte auf, die später einen Job empfehlen können.

Die Einarbeitungszeit in der Industrie dauert im Durchschnitt 6-9 Monate. Die ersten drei Monate sind kritisch. Viele wechseln zurück, weil sie denken: „Das ist nicht wie in der Uni.“ Aber genau das ist der Punkt. Es ist nicht die Uni. Und das ist gut so.

Welche Branchen sind am offensten für Forschende?

Nicht jede Branche ist gleich offen. Hier sind die Top-5, die Forschende aus Österreich am häufigsten anziehen - und warum:

Branchen mit höchster Nachfrage nach Forschenden in Österreich (2025)
Branche Typische Rollen Warum attraktiv
Biotechnologie & Pharmazie Research Scientist, Quality Control, Process Development Hohe Gehälter, klare Karrierewege, globale Unternehmen mit Sitz in Österreich (z. B. Boehringer Ingelheim, Sandoz)
Software & KI Data Scientist, Machine Learning Engineer, AI Researcher Hohe Nachfrage, flexible Arbeitsmodelle, Startups und große Firmen wie Infineon oder AIT
Industrielle Forschung & Entwicklung Product Developer, Materials Scientist, R&D Engineer Starke Verbindung zur akademischen Forschung, oft in Kooperation mit Universitäten
Umwelttechnik & Nachhaltigkeit Environmental Analyst, Sustainability Consultant, Circular Economy Specialist Wachsender Markt, staatliche Förderungen, viele Projekte mit öffentlicher Finanzierung
Automotive & E-Mobilität Battery Researcher, Sensor Engineer, Simulation Specialist Österreich ist ein Zentrum der E-Mobilitätsforschung - mit Unternehmen wie AVL, Magna, Porsche Engineering

Wenn du in Biowissenschaften oder Chemie forscht: Die Pharmabranche wartet auf dich. Wenn du mit Daten arbeitest: KI und Software sind dein Feld. Wenn du Physik oder Ingenieurwesen studiert hast: Die Industrie braucht dich - und sie zahlt gut dafür.

Was sich 2025 ändert - und warum jetzt der beste Zeitpunkt ist

Der größte Wandel kommt von oben: Ab 2025 gilt in Österreich ein neues Gehaltstransparenzgesetz. Stellenanzeigen müssen konkrete Gehaltsangaben enthalten - nicht mehr „marktkonforme Bezahlung“. Das ist ein Gamechanger. Früher konnten Unternehmen Forschende mit vagen Versprechen anlocken. Jetzt müssen sie Zahlen nennen. Und die Zahlen sind oft deutlich höher als in der Uni.

Zusätzlich steigt die Nachfrage. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in den Ruhestand. Die jüngeren Generationen sind kleiner. Die Lücke wird größer. In den nächsten fünf Jahren werden über 50.000 Fachkräfte in der Wissenschaft und Technik fehlen. Unternehmen zahlen mehr, bieten mehr Flexibilität, bauen bessere Karrierepfade auf - nur um dich zu halten.

Und dann ist da noch die KI. Künstliche Intelligenz verändert die Forschung - nicht, indem sie sie ersetzt, sondern indem sie neue Rollen schafft. Wer jetzt versteht, wie man Daten nutzt, Modelle trainiert und Ergebnisse interpretiert, wird in zehn Jahren nicht nur Forscher:in sein - sondern ein Schlüsselakteur in der Industrie.

Eine Chemikerin hält ein neues umweltfreundliches Lebensmittelverpackungsprodukt, das im Supermarkt steht, mit einem Hintergrund, der Uni und Industrie zeigt.

Was du nicht tun solltest - und was du stattdessen machst

Vermeide diese drei Fehler:

  • Nicht einfach nur Lebenslauf hochladen. Du bist kein Produkt. Du bist ein Problem-Löser. Dein Lebenslauf sollte nicht deine Publikationen auflisten - sondern zeigen, wie du komplexe Herausforderungen in der Praxis gelöst hast.
  • Nicht auf „perfekte Stelle“ warten. Es gibt keine perfekte Stelle. Es gibt eine, die dich weiterbringt. Fang mit einem Job an, der 70 % deiner Fähigkeiten nutzt. Die restlichen 30 % lernst du auf der Job.
  • Nicht den akademischen Status als Identität festhalten. Du bist nicht „nur“ Doktorand. Du bist jemand, der komplexe Systeme versteht. Das ist dein Wert. Und der ist unabhängig davon, ob du in einem Labor oder einem Meetingraum sitzt.

Die Industrie braucht nicht deine Titel. Sie braucht deine Denkweise.

Frequently Asked Questions

Kann ich nach einem Wechsel in die Industrie wieder an die Uni zurückkehren?

Ja, das ist möglich - und immer häufiger. Wer Erfahrung in der Industrie sammelt, bringt praktische Projekte, Netzwerke und Anwendungsbeispiele mit, die in der akademischen Welt sehr geschätzt werden. Viele Universitäten suchen heute gezielt Professoren mit Industrieerfahrung, weil sie besser mit Unternehmen zusammenarbeiten können. Ein Wechsel ist kein Abbruch - er ist eine Bereicherung.

Wie hoch ist der Gehaltsunterschied zwischen Uni und Industrie?

Im Durchschnitt steigt das Einkommen bei einem Wechsel von der Wissenschaft in die Industrie um 18,7 Prozent. Ein Postdoc mit fünf Jahren Erfahrung verdient in der Uni etwa 45.000-55.000 Euro brutto jährlich. In der Industrie liegt das Gehalt bei 60.000-80.000 Euro - je nach Branche und Standort. In der Software- oder Biotechnik-Branche sind auch 90.000 Euro möglich.

Wie finde ich passende Stellen in der Industrie?

Suche nicht nur auf Karriereplattformen wie StepStone oder Indeed. Gehe direkt auf die Websites von Unternehmen wie AVL, Siemens Healthineers, Borealis, Roche oder AIT. Nutze LinkedIn, um Forschende aus deinem Fachgebiet zu kontaktieren, die bereits gewechselt haben. Frag sie: „Wie hast du den Weg gefunden?“ Viele Stellen werden nicht ausgeschrieben - sie werden über Netzwerke vergeben.

Brauche ich ein zusätzliches Zertifikat, um in die Industrie zu wechseln?

Nein. Dein Doktortitel ist ausreichend. Was zählt, ist, wie du deine Fähigkeiten vermittelst. Ein Zertifikat in Projektmanagement (wie PMP oder Scrum) kann helfen - aber es ist kein Muss. Konzentriere dich darauf, deine akademischen Kompetenzen in Unternehmenssprache zu übersetzen: „Ich habe eine Methode entwickelt, die die Datenanalyse um 40 % beschleunigt“ statt „Ich habe eine Publikation in Nature geschrieben“.

Ist der Wechsel auch für ältere Forschende sinnvoll?

Absolut. Während jüngere Forschende oft aus Unsicherheit wechseln, tun es Ältere oft aus strategischer Überlegung. Wer 40+ ist und noch immer in befristeten Verträgen steckt, hat ein Recht auf Sicherheit. Die Industrie schätzt Erfahrung - besonders wenn sie mit praktischem Know-how verbunden ist. Viele Unternehmen suchen gezielt erfahrene Forschende für Führungsrollen in R&D-Abteilungen.

Was kommt als Nächstes?

Der Karrierewechsel aus der Wissenschaft ist kein Ausweg - er ist eine neue Richtung. Die Grenzen zwischen Uni und Industrie verschwimmen. Wer heute forscht, wird morgen produzieren, vermarkten, optimieren. Die Zukunft gehört nicht denjenigen, die am besten in der Uni arbeiten - sondern denjenigen, die zwischen den Welten vermitteln können.

Wenn du jetzt denkst: „Ich könnte das auch“ - dann fang an. Schreibe deine Transferfähigkeiten auf. Sprich mit drei Menschen aus der Industrie. Lese eine Stellenanzeige, die dich interessiert - und überlege: Was würde ich dort wirklich tun? Du brauchst keine neue Identität. Du brauchst nur einen neuen Kontext.

Die Wissenschaft wird dich nicht verlieren. Sie wird dich mitnehmen - in eine andere Form.

1 Kommentare

  1. Matthias Papet

    Matthias Papet

    Endlich mal jemand, der sagt, was wir alle denken 😊 Ich hab auch meinen Doktor in Biochemie gemacht und dachte, ich muss in die Uni zurück – aber nein, jetzt bei einem Startup in Berlin entwickle ich neue Diagnose-Tools und sehe jeden Tag, wie meine Arbeit Menschen hilft. Kein Antrag, kein Peer Review, nur Ergebnisse. Das ist Befreiung.

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