Was passiert wirklich in Österreichs Schulen, die als soziale Brennpunkte gelten?
Stell dir vor, du bist Lehrkraft in einer Volksschule in Graz, Wien oder Linz. Du hast 28 Kinder in deiner Klasse. Ein Drittel spricht zu Hause nicht Deutsch. Viele kommen ohne Frühstück. Die Eltern arbeiten in Schichten, haben keine Zeit für Hausaufgaben, und wenn sie kommen, fühlen sie sich von der Schule überfordert. Gleichzeitig sollst du alle Kinder auf das Niveau bringen, das der Lehrplan vorsieht. Kein Wunder, dass du am Ende des Tages erschöpft bist.
Diese Realität ist kein Einzelfall. In Österreich gibt es Hunderte von Schulen, die als soziale Brennpunkte bezeichnet werden. Sie stehen vor einer Kombination aus Armut, Sprachbarrieren, fehlender Elternbeteiligung und zu wenig Unterstützung. Die MEGA Bildungsstiftung hat 2024 mit 59 Lehrkräften aus ganz Österreich gesprochen - und das Ergebnis ist erschreckend klar: Das aktuelle System funktioniert nicht. Es repariert Symptome, aber nicht die Ursachen.
Warum Deutschförderklassen nicht funktionieren
Seit Jahren setzen Politik und Schulbehörden auf Deutschförderklassen. Kinder mit Migrationshintergrund werden aus der regulären Klasse genommen und in separate Gruppen gesteckt, um intensiv Deutsch zu lernen. Klingt logisch - aber es ist kontraproduktiv.
Die MEGA-Studie zeigt: Kinder in diesen Klassen verlieren den Anschluss an ihre Altersgenossen. Sie fühlen sich ausgegrenzt. Die Sprachförderung ist oft theoretisch, ohne Bezug zum Alltag. Und wenn sie nach sechs Monaten zurückkehren, sind sie noch immer hinterher - nicht nur in Deutsch, sondern auch in Mathematik, Naturwissenschaften und sozialen Fähigkeiten.
Ein Beispiel: Daniela, eine Lehrerin mit 35 Jahren Erfahrung, erzählt: „Beim Kopfrechnen war es früher so, dass die Kinder bei der 8er-Reihe schwierig hatten. Heute stocken sie bei drei mal vier.“ Das ist kein Mangel an Intelligenz. Das ist ein Mangel an struktureller Unterstützung. Kinder, die zu Hause nicht mit Zahlen und Sprache konfrontiert werden, brauchen mehr als einen Deutschkurs. Sie brauchen eine Schule, die sie als Ganzes sieht - mit ihren Emotionen, ihren Erfahrungen, ihren Schwächen und Stärken.
Eltern sind kein Problem - sie sind die Lösung
Es wird oft gesagt: „Die Eltern kümmern sich nicht.“ Aber wer hat sie je gefragt, wie sie sich fühlen? Viele Eltern in Brennpunktschulen arbeiten zwei Jobs, sprechen kein Deutsch, kennen das Schulsystem nicht und fühlen sich von Lehrkräften abgelehnt. Sie kommen nicht zu Elternsprechtagen, nicht weil sie uninteressiert sind, sondern weil sie sich nicht willkommen fühlen.
Die AK Vorarlberg hat 2025 eine Studie veröffentlicht: 63 Prozent der Eltern unterstützen ihre Kinder mindestens einmal pro Woche beim Lernen. Das ist mehr, als viele glauben. Aber 23 Prozent der Kinder in Vorarlberg brauchen trotzdem bezahlte Nachhilfe. Warum? Weil die Schule nicht da ist, wo die Kinder sind - in ihrer Familie, in ihrem Alltag.
Die Lösung? Eltern nicht als Problem, sondern als Ressource sehen. Das bedeutet: Mitteilungshefte in mehreren Sprachen, Elternabende in Gemeindezentren, nicht in der Schule. Übersetzer, die nicht nur Dolmetscher sind, sondern auch Vertrauenspersonen. Workshops, die zeigen, wie man mit Kindern über Mathematik spricht - ohne Deutsch perfekt zu können. Eine Schule, die sagt: „Wir brauchen euch.“
Was funktioniert wirklich: Praxisnahe, ganzheitliche Ansätze
In einigen Schulen läuft es anders. In einer Mittelschule in Salzburg gibt es seit drei Jahren ein Projekt namens „Lernen mit Leben“. Jeden Mittwoch kommen lokale Vereine in die Schule: ein Fußballverein, eine Musikschule, ein Technik-Club. Kinder, die im Unterricht still sind, zeigen sich auf dem Platz als Anführer. Ein Mädchen, das kaum sprach, gewinnt einen Wettbewerb im Robotik-Club. Ihre Selbstwirksamkeit steigt - und mit ihr ihre Leistung in der Schule.
Das ist kein Zufall. Die MEGA-Stiftung und die AK Vorarlberg fordern genau das: Schulen als Sozial- und Lernräume. Nicht nur Orte, an denen man sitzt und zuhört, sondern Orte, an denen Kinder sich wohlfühlen, sich ausprobieren, sich sehen lassen. Dafür braucht es:
- Ganztagsangebote - nicht als Betreuung, sondern als Lernzeit mit Projekten, Spiel, Kunst, Bewegung.
- Sozialarbeit an jeder Schule - nicht nur bei Krisen, sondern als fester Bestandteil des Teams.
- Psychologische Unterstützung - für Kinder, aber auch für Lehrkräfte, die emotional erschöpft sind.
- Praxisnahe Lehrerausbildung - keine Theorie, sondern echte Praxisphasen in Brennpunktschulen.
Heinzle von der AK Vorarlberg sagt es klar: „Der Chancenbonus, den der Bund jetzt einführt, ist ein erster Schritt. Aber er reicht nicht. Es braucht mehr Geld - und vor allem mehr Mut, alte Strukturen abzubauen.“
Die politische Spaltung: Wer versteht das Problem wirklich?
Politisch ist die Debatte über Bildungsgerechtigkeit in Österreich stark polarisiert.
Die ÖVP will Deutschförderklassen ausbauen - und droht mit Kürzungen von Sozialleistungen, wenn Eltern nicht „mitarbeiten“. Das ist keine Lösung. Das ist Bestrafung. Wer keine Zeit hat, weil er 12 Stunden am Tag arbeitet, kann nicht „mitarbeiten“ - er braucht Unterstützung.
Die SPÖ spricht von „Deutsch-Lernen auf der Höhe der Zeit“ - und fordert mehr Geld, mehr Personal, mehr mehrsprachige Lehrkräfte. Das ist der richtige Weg - aber ohne konkrete Umsetzung bleibt es ein Versprechen.
Die FPÖ macht Migrant:innen für Schulprobleme verantwortlich. Sie sagt: „Es geht um Leistung.“ Aber Leistung kann man nicht fordern, wenn man den Boden nicht bereitet. Kinder, die hungrig in die Schule kommen, brauchen kein Motivationsschreiben - sie brauchen ein warmes Essen.
Und dann ist da die Bierpartei - mit einem scharfen Satz: „Drei nicht-deutschsprachige Kinder in einer Klasse lernen schnell. Zwanzig sind eine Überforderung für alle.“ Das ist keine Polemik. Das ist eine Tatsache. Die Verteilung von Kindern mit besonderen Bedarfen ist in Österreich ungleich. In Wien konzentrieren sich viele außerordentliche Schüler:innen in wenigen Schulen. Andere Schulen haben kaum Unterstützung - und doch mehr Ressourcen.
Was braucht es jetzt - und wer zahlt dafür?
Die MEGA Bildungsstiftung hat 2024 eine Million Euro für Projekte in den Bereichen Lernförderung, psychosoziale Gesundheit und Elternarbeit ausgeschrieben. 200.000 Euro pro Projekt - das klingt nach viel, ist aber kaum genug. In einer einzigen Brennpunktschule braucht man mindestens 100.000 Euro pro Jahr, um einen wirklichen Wandel zu ermöglichen: eine Sozialarbeiterin, einen Psychologen, einen Koordinator für Elternarbeit, Materialien, Ausflüge, Workshops.
Die AK Vorarlberg fordert: Flächendeckende Ganztagsangebote - nicht nur in Wien, sondern in jedem Dorf, jeder Stadt. Die Wiener Grünen warnen: „Wenn wir nicht die Verteilung der außerordentlichen Schüler:innen ändern, wird sich die Ungleichheit weiter verfestigen.“
Die Lösung ist nicht teuer - sie ist nur unbequem. Sie braucht:
- Ein Umdenken in der Lehrerausbildung: Wer Lehrer werden will, muss mindestens ein Jahr in einer Brennpunktschule verbringen.
- Verpflichtende Fortbildungen für alle Lehrkräfte zu Traumafokussierter Pädagogik, Mehrsprachigkeit und sozialer Ungleichheit.
- Eine faire Verteilung von Ressourcen: Schulen mit hohem Bedarf bekommen mehr Geld - nicht weniger.
- Ein neues Verständnis von Erfolg: Nicht nur Noten zählen. Selbstvertrauen, Zusammenhalt, Neugier - das sind die wahren Bildungsziele.
Was du als Elternteil, Lehrer oder Bürger tun kannst
Du musst nicht Politiker sein, um etwas zu verändern. Hier sind konkrete Schritte:
- Als Elternteil: Frag nach: „Was kann ich tun, um meine Tochter oder meinen Sohn zu unterstützen?“ - nicht: „Warum kann er das nicht?“
- Als Lehrer: Sprich mit deiner Schulleitung: „Können wir einen Tag pro Woche mit Vereinen verbinden?“
- Als Bürger: Unterstütze lokale Projekte. Ein Buchladen, der Bücher in mehreren Sprachen verkauft. Ein Verein, der Nachhilfe anbietet. Ein Café, das Elternabende hostet.
Die größte Lüge in der Bildungspolitik ist: „Es ist zu teuer.“ Die Wahrheit ist: Es ist teurer, nichts zu tun. Kinder, die in der Schule scheitern, werden später in der Sozialhilfe, in der Arbeitslosigkeit, in der Kriminalität landen. Das kostet uns alle.
Was kommt als Nächstes?
Im Juni 2024 wurde die MEGA Bildungsmillion vergeben. Einige Projekte haben das Geld bekommen - andere nicht. Die Debatte geht weiter. Die AK Vorarlberg wird 2025 eine neue Studie veröffentlichen - diesmal mit Daten aus ganz Österreich.
Und in einer Schule in Graz? Ein neues Projekt startet: Jeden Donnerstag kommt eine Erzieherin aus dem Jugendzentrum in die Schule. Sie bringt ein Brettspiel mit: „Zahlen entdecken“. Kinder spielen, lachen, rechnen - ohne es zu merken. Die Lehrerin sagt: „Das ist der erste Tag, an dem ich nicht denke: ‚Ich schaffe das nicht.‘“
Das ist Bildungsgerechtigkeit. Nicht mit Gesetzen. Nicht mit Reden. Mit einem Spiel. Mit einer Person, die da ist. Mit einem Moment, in dem ein Kind spürt: Du gehörst dazu.
3 Kommentare
Erica Schwarz
Ich hab in Berlin ne Schule besucht, wo die Kids jeden Tag ein warmes Essen kriegen - und die Lehrer haben Zeit, einfach nur zuzuhören. Kein Deutsch-Test, kein Formular, nur: Du bist hier, und das zählt. Das ist alles, was manchmal braucht.
Oliver Sy
Die strukturelle Dysfunktion des österreichischen Bildungssystems resultiert aus einer fehlenden Integration von sozialer Kapitaltheorie in die pädagogische Praxis. Deutschförderklassen sind ein symptomatisches Bandaid - kein systemic intervention. Es bedarf einer transdisziplinären Koordination: Sozialarbeit, Sprachtherapie, kognitive Stimulation - alles als modulare, nicht-segmentierte Architektur. Nur so wird Inklusion realisierbar.
Steffen Ebbesen
Die Eltern sind doch die Ursache. Wenn sie nicht mal Deutsch können, warum erwarten sie dann, dass ihre Kinder in der Schule mithalten? Das ist nicht Bildungsungerechtigkeit - das ist Verantwortungsverweigerung.