Was ist LRS und Dyskalkulie wirklich?
Vielleicht hast du schon mal von einem Kind gehört, das trotz guter Noten in anderen Fächern bei Mathe völlig verzweifelt oder ständig falsch schreibt, obwohl es sich so sehr bemüht. Das ist nicht Faulheit. Das ist nicht Dummheit. Das ist LRS oder Dyskalkulie.
LRS, also Lesee- und Rechtschreibstörung, bedeutet, dass ein Kind Schwierigkeiten hat, Wörter richtig zu lesen oder zu schreiben - trotz normaler oder sogar hoher Intelligenz. Es verwechselt Buchstaben, vergisst Silben, kann Laute nicht richtig zuordnen. Dyskalkulie ist die Rechenstörung: Kinder verstehen Zahlen nicht als Mengen, sie merken sich Rechenregeln wie auswendig gelernte Fakten, aber ohne Verständnis. Ein Kind mit Dyskalkulie kann 3 + 4 rechnen, aber nicht erkennen, dass drei Äpfel plus vier Äpfel sieben Äpfel ergeben. Beide Störungen sind neurobiologisch bedingt. Sie haben nichts mit mangelnder Anstrengung zu tun.
Wie wird LRS oder Dyskalkulie diagnostiziert?
Ein Lehrer kann nicht einfach sagen: „Du hast Dyskalkulie.“ Das ist wichtig. Nur Kinder- und Jugendpsychiater oder approbierte psychologische Psychotherapeuten dürfen eine offizielle Diagnose stellen - nach ICD-10 oder ICD-11. Schulen können nur eine „schulische Feststellung“ machen: „Das Kind zeigt deutliche Anzeichen von Rechen- oder Schreibschwierigkeiten.“
Die Diagnose dauert oft Monate. Die durchschnittliche Wartezeit nach ersten Anzeichen liegt bei 11,3 Monaten. Warum? Weil es nicht genug Fachkräfte gibt. In vielen Bundesländern gibt es nur ein oder zwei Psychologen, die für ganz eine Region zuständig sind. Und die Kinder warten. In der Zeit verlieren sie das Vertrauen in sich selbst.
Wichtig: Nicht jedes Kind, das schlecht rechnet, hat Dyskalkulie. Eine Studie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie zeigte: 32,4 Prozent der Kinder, die als dyskalkulieverdächtig eingestuft wurden, litten nur unter unzureichender Förderung. Das heißt: Manche Kinder brauchen einfach mehr Zeit, bessere Erklärungen, andere Übungen - kein Medikament, keine Diagnose.
Welche Nachteilsausgleiche gibt es?
Ein Nachteilsausgleich ist kein Bonus. Er ist ein Recht. Er gleicht die Benachteiligung aus, die durch die Störung entsteht. In der Praxis bedeutet das:
- Verlängerte Zeit bei Klassenarbeiten - oft 20 bis 30 Prozent mehr
- Vorlesen der Aufgaben durch eine Lehrkraft
- Verwendung von Rechtschreibprogrammen oder -hilfen (z. B. Text-to-Speech-Software)
- Abschaffung von Punktabzug bei Rechtschreibfehlern in Fächern wie Geschichte oder Biologie
- Keine Benotung von Rechenfehlern bei Textaufgaben, wenn das Verständnis der Aufgabe stimmt
Doch hier liegt das Problem: Jedes Bundesland macht das anders. In Bayern gibt es klare Regeln im Erlass vom 27.09.2018. In Baden-Württemberg gilt die Verwaltungsvorschrift vom 22.08.2008. In einigen Ländern ist der Nachteilsausgleich selbst bei Diagnose nicht automatisch. Einige Lehrer wissen nicht, was sie tun sollen. Eine Umfrage der Universität Tübingen ergab: 18,7 Prozent der Lehrkräfte berichteten von völlig unklaren Regelungen in ihrem Bundesland.
Wie wird gefördert - in der Schule und außerhalb?
In der Schule sollte Förderung nicht nur „wenn Zeit ist“. Sie muss strukturiert sein. Für Dyskalkulie bedeutet das: Zahlen als Mengen begreifen. Mit Steinen, mit Fingern, mit Bildern. Mit Alltagsbeispielen. Kinder lernen nicht durch Auswendiglernen, sondern durch Verstehen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung empfiehlt eine multisensorische Methode: Sehen, Hören, Anfassen - alles gleichzeitig.
Bei LRS funktioniert das mit phonologischen Trainings. Ein bekanntes Programm ist „Hören, lauschen, lernen“ (HLL) von der Universität Frankfurt. Eine Metaanalyse aus 2022 zeigte: 78,3 Prozent der Grundschulkinder, die dieses Programm durchliefen, verbesserten ihre Rechtschreibung signifikant.
Aber: Die Schule allein reicht oft nicht. Eine Umfrage der Zeitschrift „Eltern“ ergab: 54,7 Prozent der Eltern müssen private Förderung bezahlen. Warum? Weil die Schulen nicht genug Zeit haben. Der durchschnittliche Förderzeit pro Woche liegt bei nur 27 Minuten - dabei empfehlen Experten mindestens 60 Minuten. Und die Kosten? Eine 45-minütige Therapiestunde kostet zwischen 60 und 120 Euro. Im Jahr summiert sich das auf durchschnittlich 1.850 Euro. Für viele Familien ist das eine große Belastung. 23,8 Prozent der Haushalte mit durchschnittlichem Einkommen geben an, dass sie sich die Therapie kaum leisten können.
Was läuft schief in den Schulen?
Fast alle Lehrerausbildungspläne der Bundesländer enthalten Module zu LRS und Dyskalkulie. Doch 76,4 Prozent der Grundschullehrer fühlen sich unzureichend vorbereitet. Warum? Weil die Ausbildung oft theoretisch bleibt - keine Praxis, keine Übungen, keine realen Fallbeispiele. Und dann kommt der Alltag: 30 Kinder in einer Klasse, 20 Stunden Unterricht pro Woche, keine Zeit für individuelle Förderung.
Die personelle Lage ist katastrophal. In Brandenburg arbeitet ein Sonderpädagoge durchschnittlich für 14,7 Schulen. Das bedeutet: Er kann nicht regelmäßig vorbeikommen. Keine Kontinuität. Keine Beziehung zu den Kindern. Keine echte Förderung.
Und trotzdem: 68,2 Prozent der Eltern, die im Forum des Bundesverbands Legasthenie und Dyskalkulie antworteten, berichteten von positiven Erfahrungen - wenn die Lehrkräfte geschult waren und Zeit hatten. Es funktioniert. Aber nur, wenn man es richtig macht.
Was ändert sich jetzt? Neue Entwicklungen ab 2024/25
Endlich gibt es Bewegung. Die Kultusministerkonferenz hat am 8. Juni 2023 bundesweit einheitliche Standards für die Diagnostik beschlossen. Ab dem Schuljahr 2024/25 gilt: Alle Schulen müssen standardisierte Screeningverfahren einsetzen. Kein Kind soll mehr warten, bis es völlig verzweifelt ist.
Die Bundesregierung hat 150 Millionen Euro für die sonderpädagogische Versorgung bereitgestellt. Ein Teil davon fließt in digitale Tools. Die App „Rechenschwäche ade“ von der TU München ist kostenlos und wird von 28,3 Prozent der Schulen genutzt. „Antolin“ von Cornelsen, kostenpflichtig, hat 22,1 Prozent Marktanteil. Digitale Hilfsmittel sind kein Ersatz für menschliche Förderung - aber sie können die Lücke füllen, wenn kein Therapeut da ist.
Experten prognostizieren: Bis 2030 werden 30 Prozent mehr Fälle diagnostiziert. Nicht, weil mehr Kinder betroffen sind. Sondern weil wir besser hinschauen. Weil wir endlich verstehen: LRS und Dyskalkulie sind keine Charakterschwächen. Sie sind Lernunterschiede - und sie sind behandelbar.
Was bleibt? Hoffnung - und Verantwortung
Die Langzeitstudie der Universität Potsdam aus 2023 hat einen klaren Befund: Wenn Kinder mit LRS oder Dyskalkulie früh und richtig gefördert werden, dann sind 82,4 Prozent der LRS-Kinder und 76,8 Prozent der Dyskalkulie-Kinder im Erwachsenenalter ohne signifikante Einschränkungen. Sie arbeiten. Sie studieren. Sie leben ein normales Leben.
Das ist kein Wunder. Das ist Bildungspolitik, die funktioniert. Es braucht nicht mehr Geld - es braucht mehr Weitblick. Es braucht nicht mehr Diagnosen - es braucht mehr Verständnis. Es braucht nicht mehr Schulen - es braucht mehr Lehrer, die wissen, wie sie mit diesen Kindern umgehen.
Ein Kind mit Dyskalkulie ist kein Mathe-Misserfolg. Es ist ein Kind, das anders lernt. Und das ist kein Problem. Das ist eine Chance - für die Schule, für die Gesellschaft, für uns alle.