Schulpsychologie und Inklusion in Österreich: Wie multiprofessionelle Teams Schule verändern

Im Jahr 2025 ist Inklusion in österreichischen Schulen kein Ziel mehr, das auf die Zukunft verschoben wird - sie ist Alltag. Doch wie funktioniert sie wirklich? Nicht durch gute Absichten, sondern durch enge, strukturierte Zusammenarbeit zwischen Menschen mit ganz unterschiedlichen Fachkenntnissen. Schulpsychologinnen und Schulpsychologen arbeiten dabei nicht allein. Sie sitzen am Tisch mit Sozialarbeiter:innen, Sonderpädagog:innen, Lehrkräften, Schulärzt:innen und manchmal sogar mit Jugendhilfeträgern. Gemeinsam entscheiden sie, welches Kind welche Unterstützung braucht - und wie diese im Alltag der Schule umgesetzt wird.

Was macht Schulpsychologie wirklich in einer inklusiven Schule?

Schulpsychologie in Österreich ist keine Beratungsstelle, die nur dann angerufen wird, wenn etwas schiefgelaufen ist. Sie ist ein fester Bestandteil des Schulsystems, an den Bildungsdirektionen und deren Außenstellen verankert. Ihre Aufgaben sind klar definiert: psychologische Gutachten erstellen, wenn es um Schulreife oder sonderpädagogischen Förderbedarf geht, Krisen an Schulen begleiten, das Schulklima verbessern und Lehrkräfte bei der Bewältigung komplexer Lern- und Verhaltenssituationen unterstützen. Aber das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Der entscheidende Teil ist die Kooperation. Schulpsycholog:innen bringen ihre Expertise in multiprofessionelle Teams ein - nicht als alleinige Entscheider:innen, sondern als Teil eines Netzwerks.

Ein Kind mit Lernschwierigkeiten, das in der Klasse immer wieder auffällt, wird nicht einfach als „schwierig“ abgestempelt. Stattdessen wird ein Team zusammengerufen. Die Klassenlehrerin beschreibt, was im Unterricht passiert. Die Schulsozialarbeiterin erzählt, was zu Hause läuft. Die Schulpsychologin analysiert die kognitiven Muster und emotionalen Belastungen. Der Sonderpädagoge aus dem Pädagogischen Beratungszentrum (PBZ) schlägt konkrete Unterrichtsmodifikationen vor. Und die Schulleitung stellt sicher, dass Zeit und Ressourcen dafür da sind. Das ist Inklusion - nicht als extra Programm, sondern als tägliche Praxis.

Die Rolle der Pädagogischen Beratungszentren (PBZ)

Seit 2016, mit der Einführung der Inklusiven Modellregionen in Kärnten, Steiermark und Tirol, gibt es in Österreich die Pädagogischen Beratungszentren. Diese Zentren sind nicht nur Beratungsstellen - sie sind die Organisationskerne der Inklusion auf regionaler Ebene. Ihr Auftrag: die Strukturen so zu gestalten, dass Kinder mit unterschiedlichen Bedürfnissen erfolgreich in allgemeinen Schulen lernen können. Das bedeutet: sie koordinieren Ressourcen, entwickeln Konzepte für Unterricht, schulen Lehrkräfte und organisieren die Vernetzungstreffen, in denen alle Akteure zusammenkommen.

Ein PBZ in der Steiermark zum Beispiel organisiert vier bis sechs Mal pro Jahr ein Treffen mit Schulpsycholog:innen, Sozialarbeiter:innen, Eltern und Lehrkräften. Jedes Treffen hat ein konkretes Ziel: eine Schülerin mit Autismus-Spektrum-Störung soll im Unterricht besser integriert werden. Die Schulpsychologin stellt fest, dass sie bei lauten Umgebungen überreagiert. Die Sozialarbeiterin erzählt, dass die Familie kaum Unterstützung hat. Die Lehrkraft berichtet, dass sie nicht weiß, wie sie die Aufgaben anpassen soll. Gemeinsam entwickeln sie einen Plan: ein ruhiger Rückzugsort im Klassenzimmer, reduzierte Lautstärke bei Tests, eine visuelle Tagesstruktur - und eine regelmäßige Rückmeldung an die Eltern. Ohne dieses Team wäre das nicht möglich. Keine einzelne Profession hätte alle Antworten.

Wer ist noch am Tisch? Das multiprofessionelle Netzwerk

Das Team ist größer, als viele denken. Neben Schulpsycholog:innen und PBZ-Mitarbeitern sind das:

  • Schulärzt:innen: Sie klären medizinische Hintergründe, etwa bei ADHS, Epilepsie oder chronischen Erkrankungen, die den Lernalltag beeinflussen.
  • Schulsozialarbeiter:innen und -pädagog:innen: Sie verbinden Schule und Familie, helfen bei sozialen Problemen, Armut, Migration oder Gewalt in der Familie.
  • Sonderpädagog:innen: Sie bringen tiefes Wissen über Lernstörungen, Kommunikationsprobleme oder motorische Einschränkungen ein.
  • Lehrkräfte und Schulleitungen: Sie sind nicht nur Empfänger:innen von Empfehlungen - sie sind diejenigen, die die Maßnahmen im Alltag umsetzen.
  • Externe Therapeut:innen: Sprachtherapeut:innen, Ergotherapeut:innen oder Kinderpsycholog:innen aus der freien Wirtschaft, die mit der Schule kooperieren.

Diese Vielfalt ist kein Nachteil - sie ist die Stärke. Jede:r bringt einen anderen Blickwinkel mit. Die Schulpsychologin sieht das Kind als Individuum mit emotionalen Bedürfnissen. Die Sozialarbeiterin sieht es im Kontext seiner Familie. Der Lehrer sieht es im Kontext der Klasse. Nur wenn alle Perspektiven zusammenkommen, entsteht ein vollständiges Bild. Und nur dann kann die Unterstützung wirklich greifen.

Ein Vernetzungstreffen von Fachkräften in einem pädagogischen Beratungszentrum in den österreichischen Alpen.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit - und wo hakt es?

Die Zusammenarbeit klingt perfekt - doch in der Praxis ist sie oft mühsam. Ein Problem: die Aufgabenverteilung ist nicht immer klar. Wer ist zuständig, wenn ein Kind sich nicht mehr meldet? Die Schulpsychologie? Der Sozialarbeiter? Der Lehrer? Oder das PBZ? In vielen Regionen gibt es noch Unsicherheiten, welche Rolle wer spielt. Das führt zu Doppelarbeit - oder zu Lücken, in denen Kinder untergehen.

Ein weiteres Hindernis: Zeit. Vernetzungstreffen finden zwar regelmäßig statt, aber oft nur einmal pro Quartal. Zwischen den Treffen bleibt viel auf der Strecke. Ein Lehrer braucht schnelle Hilfe - aber der nächste Termin ist in acht Wochen. Hier fehlt es an flexiblen Kommunikationswegen, etwa digitalen Plattformen oder klaren Ansprechpersonen.

Und dann ist da noch die Haltung. Nicht alle Lehrkräfte fühlen sich sicher, wenn externe Fachkräfte ins Klassenzimmer kommen. Manche sehen sie als Kontrolleure, nicht als Unterstützer:innen. Andere haben Angst, dass ihre Kompetenz in Frage gestellt wird. Das ist kein Mangel an Willen - das ist eine Frage von Vertrauen. Und Vertrauen baut man nicht mit Vorgaben auf, sondern mit regelmäßigen, respektvollen Gesprächen.

Was funktioniert? Praxisbeispiele aus Österreich

In Wien hat der Fachbereich Inklusion, Diversität und Sonderpädagogik (FIDS) eine einfache Lösung gefunden: eine zentrale E-Mail-Adresse - [email protected]. Lehrkräfte, Eltern oder Schulpsycholog:innen können dort direkt anfragen - und bekommen innerhalb von zwei Werktagen eine Rückmeldung. Das reduziert Bürokratie und beschleunigt die Hilfe.

In Tirol haben Schulen begonnen, „Früherkennungsteams“ einzurichten. Sobald ein Kind auffällig wird - sei es durch Verhaltensänderungen, Rückzug oder Lernrückstände - lädt die Schule ein kurzes Gespräch mit der Schulpsychologin und der Klassenlehrerin ein. Schon nach drei Wochen wird entschieden: braucht das Kind nur mehr Aufmerksamkeit, oder braucht es ein ganzes Team? Diese proaktive Haltung verhindert, dass Probleme wachsen.

Und in Kärnten arbeiten Schulpsycholog:innen eng mit der Jugendhilfe zusammen. Wenn ein Kind aus einer Familie mit hohem Risiko kommt, wird ein gemeinsamer Fallmanager benannt - eine Person, die alle Akteure verbindet. Das ist kein neues Konzept - aber es ist eines, das funktioniert, weil es klar ist: Wer ist verantwortlich? Wen erreiche ich, wenn ich Hilfe brauche?

Eine digitale Karte zeigt die Zusammenarbeit von Schulpsychologen, Sozialarbeitern und Lehrkräften in einer österreichischen Schule.

Was braucht es, damit Inklusion wirklich gelingt?

Es braucht keine neuen Gesetze. Es braucht keine teuren Programme. Es braucht:

  • Klare Rollen: Jede:r im Team muss wissen: Was ist meine Aufgabe? Was nicht?
  • Regelmäßige Treffen: Mindestens vier Mal pro Jahr, aber auch kurze, schnelle Gespräche dazwischen.
  • Vertrauen: Keine Hierarchie, keine Kontrolle - nur gemeinsame Verantwortung.
  • Zeit: Lehrkräfte brauchen Zeit, um an diesen Prozessen teilzunehmen - nicht als Extra, sondern als Teil ihrer Arbeit.
  • Digitalisierung: Eine einfache Plattform, wo alle Informationen gesammelt, aber geschützt sind - für alle Beteiligten zugänglich.

Inklusion ist kein Projekt, das irgendwann abgeschlossen ist. Sie ist eine Haltung. Eine Haltung, die sagt: Jedes Kind hat das Recht, in der Schule zu sein - und jede:r, der oder die mit diesem Kind arbeitet, hat das Recht, gut unterstützt zu werden. Die Schulpsychologie ist dabei kein Einzelkämpfer. Sie ist der Knotenpunkt in einem Netzwerk, das zusammenhält - wenn es richtig funktioniert.

Was kommt als Nächstes?

Bundesweit wird gerade eine Auswertung der Zuweisungsverfahren für schulpsychologische Unterstützung in Arbeit. Das ist ein wichtiger Schritt. Denn bislang war oft unklar, wie viele Kinder tatsächlich Hilfe brauchen, wer sie bekommt und warum. Mit diesen Daten kann man jetzt gezielt verbessern: Wo gibt es Engpässe? Wo fehlt die Kooperation? Wo funktioniert es gut - und warum?

Die Zukunft der Inklusion in Österreich liegt nicht in neuen Gebäuden oder teuren Geräten. Sie liegt in den Gesprächen, die zwischen Lehrer:innen, Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen stattfinden. In den Momenten, in denen jemand sagt: „Ich brauche Hilfe.“ Und jemand anderes antwortet: „Ich bin da.“

Was ist der Unterschied zwischen Schulpsychologie und Pädagogischem Beratungszentrum (PBZ)?

Die Schulpsychologie ist Teil der Schulbehörde und bietet psychologische Gutachten, Krisenintervention und Beratung zur Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Sie ist spezialisiert auf psychologische Bewertungen und die Unterstützung von Lehrkräften bei emotionalen oder verhaltensbezogenen Herausforderungen. Das Pädagogische Beratungszentrum (PBZ) hingegen ist verantwortlich für die organisatorische und pädagogische Umsetzung von Inklusion auf regionaler Ebene. Es koordiniert Ressourcen, entwickelt Konzepte für den Unterricht, schult Lehrkräfte und organisiert die Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren - inklusive der Schulpsychologie. Beide arbeiten eng zusammen, aber mit unterschiedlichen Fokus: die Schulpsychologie auf die individuelle psychologische Ebene, das PBZ auf das System.

Kann ich als Elternteil direkt die Schulpsychologie kontaktieren?

Ja, das ist möglich. In Österreich ist der Zugang zu schulpsychologischen Leistungen freiwillig und kostenlos. Eltern können sich direkt an die regional zuständige schulpsychologische Beratungsstelle wenden - entweder telefonisch oder per E-Mail. Oft wird empfohlen, zuerst mit der Schule zu sprechen, da diese die Koordination mit anderen Akteuren wie dem PBZ oder der Schulsozialarbeit erleichtern kann. Aber es ist kein Muss. Jede Familie hat das Recht, unabhängig Hilfe anzufordern.

Warum braucht man Sozialarbeiter:innen in der Schule, wenn es doch schon Schulpsycholog:innen gibt?

Schulpsycholog:innen fokussieren sich auf das Kind - seine Gedanken, Gefühle, Lernverhalten und psychische Belastungen. Sozialarbeiter:innen fokussieren sich auf den Kontext: die Familie, die wirtschaftliche Situation, den Wohnort, den Zugang zu Hilfen. Ein Kind, das in der Schule zurückgezogen ist, könnte psychologisch gesund sein - aber in einer Familie leben, die keine Heizung hat oder unter ständiger Angst vor Abschiebung leidet. Nur die Sozialarbeiterin kann diese Rahmenbedingungen ansprechen, Kontakt zu Jugendämtern herstellen oder finanzielle Unterstützung beantragen. Ohne sie bleibt die psychologische Beratung unvollständig.

Wie oft treffen sich multiprofessionelle Teams in Österreich?

In den meisten Modellregionen finden die Vernetzungstreffen vier bis sechs Mal pro Jahr statt - meist als halbtägige oder ganztägige Veranstaltungen. Diese Treffen sind strukturiert und dokumentiert. Dazwischen gibt es jedoch oft kaum formelle Kommunikation. Viele Teams wünschen sich daher regelmäßige, kürzere Abstimmungsrunden - etwa alle sechs bis acht Wochen - oder digitale Tools, um schnell Rückmeldungen zu geben. Die Qualität der Zusammenarbeit hängt nicht nur von der Häufigkeit ab, sondern davon, ob die Gespräche wirklich wirksam sind - und ob alle Beteiligten sich gehört fühlen.

Ist Inklusion in Österreich erfolgreich?

Inklusion in Österreich ist kein Erfolg oder Misserfolg - sie ist ein Prozess. In manchen Regionen, wie Wien, Tirol oder der Steiermark, funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Schulpsychologie, PBZ und Schulsozialarbeit sehr gut. Kinder bekommen gezielte Unterstützung, Lehrkräfte fühlen sich entlastet. In anderen Regionen fehlt es an Personal, Zeit oder klaren Strukturen. Der entscheidende Faktor ist nicht das Bundesland, sondern die Haltung der Schule: Gibt es Vertrauen? Gibt es Zeit? Gibt es den Mut, gemeinsam zu denken - und nicht nur zu entscheiden? Inklusion gelingt dort, wo Menschen bereit sind, ihre Rollen zu teilen - und nicht zu behalten.

2 Kommentare

  1. Stephan Lepage

    Stephan Lepage

    ich find das alles nice aber wer zahlt das? die schule hat doch schon kein geld für klassenbücher
    und jetzt noch 10 leute im team? lmao

  2. Erica Schwarz

    Erica Schwarz

    das ist genau das, was ich als lehrerin seit jahren fordere: endlich jemand, der nicht nur sagt, was falsch ist, sondern hilft, es zu ändern. endlich wird das kind gesehen, nicht nur das problem.

Schreibe einen Kommentar